Der Radentscheid – erstes Konjunkturprogramm für alle

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Vom Radentscheid profitiert die Lebensqualität der Berliner, aber auch die Bauwirtschaft (Foto: Wissenschaftsjahr/flickr CC)

Kommentar von Tim Lehmann, Architekt und Stadtplaner, Initiative Volksentscheid Fahrrad

Am 18. Mai hat der Berliner Senat seine „amtliche Kostenschätzung“ für die Umsetzung des Volksentscheids Fahrrad veröffentlicht. Er rechnet mit Kosten von etwa zwei Milliarden Euro. Um es vorwegzunehmen: Das ist gut so, denn damit kommt der Radverkehr endlich in der Hauptstadt an. Mögliche Kosten von zwei Milliarden Euro bedeuten etwa das Fünffache von unserer Kostenschätzung, wenn die direkten Einspareffekte nicht betrachtet werden. Wir halten unsere Kostenschätzung nach wie vor für absolut ausreichend, wenn effizient gewirtschaftet und angemessen gebaut wird.

Wie lässt sich der Unterschied erklären? Wenn ich in Berlin Bahn fahre, steige ich in einem Hauptbahnhof ein, der fünfmal so viel gekostet hat, wie Hauptbahnhöfe in anderen Großstädten. Bald kann ich auf einer Stadtautobahn fahren, die fünfmal teurer ist als andere Stadtautobahnen. Und irgendwann steige ich an einem Großflughafen in den Flieger, der fünfmal mehr gekostet hat als andere Großflughäfen. Wir sind eben die Hauptstadt und klotzen lieber, statt zu kleckern. Warum nicht endlich auch beim Radverkehr? Ich als Radfahrer und mobiler, urbaner Mensch hätte überhaupt nichts dagegen.

Aber natürlich gibt es weitere Erklärungen. Der Senat hat viele Kosten eingerechnet, für die er auch ohne den Volksentscheid aufkommen müsste. Personalaufbau bei der kaputtgesparten Polizei und Verwaltung inklusive neuer Verwaltungsgebäude ist sicher sinnvoll, aber in dieser Form nicht direkt im Volksentscheid Fahrrad gefordert. Auch die Sanierung fast aller Berliner Hauptstraßen stünde wohl auch ohne den Volksentscheid in den nächsten zehn Jahren an.

Ein guter Teil der Kosten kann voraussichtlich mit Bundes- und EU-Mitteln bestritten werden. Etwa die Radschnellwege. Die Förderanträge für Geld, das sonst in andere clevere Städte wie Karlsruhe, Münster oder Bremen fließen würde, kann Berlin natürlich jetzt schon stellen und muss dafür nicht auf den Volksentscheid warten. In der Hauptstadt wohnen am meisten Einwohner, hier kommen Bundesmittel also sehr vielen Menschen zugute.

Gar nicht berücksichtigt hat der Senat die vielfältigen Einsparpotentiale. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Berlin versucht, seine Klimaziele ohne Radentscheid auf anderem Wege zu erreichen, wird es um ein Vielfaches teurer. Im Gebäudebereich müssten wohl alle Gründerzeit-Altbauten – mit obendrein hässlichen Styropor-Dämmplatten –  isoliert werden. Denkmalschutz good bye. Oder alle Berliner Autofahrer bekämen ein Elektroauto. Wie viele zusätzliche Windkraftanlagen würde das in Brandenburg bedeuten? Schon allein die Batterien zum Speichern des benötigten Stroms würden viele Milliarden Euro zusätzlich kosten.

Und hier kommen wir zum entscheidenden Punkt. Häufig werden in Deutschland große Summen für Maßnahmen ausgegeben, von denen vor allem die Industrie profitiert, die aber für viele Menschen zu keiner Verbesserung ihrer Lebensqualität führen. Wenn der Radentscheid sich nun zu einem Sofortprogramm zur Sanierung der maroden Berliner Verwaltung und der holprigen Berliner Straßen entwickelt, ist das gut. So wird Radverkehr endlich zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor und Wachstumsmotor. Werden plötzlich die Lobbyisten der Bauindustrie ebenso wie die der Planer- und Beraterbranche die Radverkehrsförderung ausgiebig und gerne mit unterstützen?

Zwei Milliarden Euro in acht Jahren (die Kostenschätzung des Senats geht von einem achtjährigen Umsetzungszeitraum aus) bedeuten aber auch 6.000 zusätzliche Arbeitsplätze in Berlin. Mehr Wohlstand, eine geringere Arbeitslosenquote, weniger Sozialausgaben. Auch das ist sehr gut für Berlin.

Wenn wir mit dem Radentscheid ein gewaltiges Konjunkturprogramm angeschoben haben, das neben besseren Verkehrsbedingungen für alle Berliner noch zahlreiche weitere gute Maßnahmen in unserer Stadt bewirkt, dann können wir stolz darauf sein. Dank der umfassenden und gründlichen Kostenschätzung des Senats ist das Fahrrad am 18.05.2016 kurz vor dem Ride of Silence endlich auf Augenhöhe mit anderen Verkehrsmitteln angekommen, auch wenn dieser Effekt durch die Senatsverwaltung vielleicht gar nicht beabsichtigt war.

Wir stehen jetzt vor einer Revolution, eine Umwälzung und Neugestaltung des öffentlichen Raums. Denn es geht um ein faires Miteinander im Verkehr, weniger Staus, weniger Lärm, bessere Luft und vor allem viel weniger Verkehrstote und -verletzte für Kosten, die gerade einmal irgendwo zwischen 320 Millionen und gut zwei Milliarden Euro liegen. Ob es nun jährlich 13 oder 80 Euro sind, die von meinen Steuern dafür verwendet werden, ist mir eigentlich egal. Pro Tag sind das gerade einmal zwischen 4 und 22 Cent. Lebensqualität und Verkehrssicherheit zum Preis einer Schrippe! Andere schöne Dinge kosten mich deutlich mehr. Und in den Kosten ist sogar der Nachholbedarf der letzten 10 Jahre enthalten, in denen der Radverkehr in Berlin sträflich vernachlässigt wurde. Für solche großartigen Verbesserungen meiner urbanen Lebensqualität wäre ich bereit noch viel viel mehr auszugeben. Es geht gar nicht ums Geld, es geht um Haltung und den politischen Willen. Danke, liebe Senatsverwaltung.


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